Manchmal geht es ziemlich konfus zu auf dieser Welt. Zumindest was das Sitzen angeht: Auf der einen Seite die anhaltende Evidenz über die Schädlichkeit von zu viel Sitzen. Auf der anderen Seite ein hartnäckiges Festhalten am ganztägigen Sitzen in Schule und am Arbeitsplatz. Und auf einer dritten Seite die positiven Aspekte des Sitzen: die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, die in einer sitzenden Position möglich sind.
Die meiste Zeit meines Lebens berührte mich das gar nicht so wirklich. Ich hatte zwar ein weitgehend sitz-basierten Alltag (Schule, Studium, Büro-basierte Jobs), war aber gleichzeitig sportlich sehr aktiv – so dass ich mir über meine Sitzgewohnheiten nicht viel Gedanken machte.
Das änderte sich, vielleicht sogar ein wenig schlagartig. Auslöser gab es gleich zwei:
- Ich kündigte meinen Job und fing an, ausschließlich von zu Hause aus zu arbeiten.
- Mein Sohn kam in die Schule.
Diese zwei Auslöser hatten zwei Auswirkungen:
- Ich machte meine Büro-/PC-Arbeit kaum noch auf Stühlen/an Tischen, sondern fast ausschließlich auf dem Boden – und war überrascht, wie es sich auf meine Sitz-Beweglichkeit auswirkte.
- Mein Sohn saß mehr auf Stühlen/an Tischen als jemals zuvor in seinem Leben.
Mir wurde ziemlich schnell klar: Das Problem war nicht das Sitzen. Das Problem war: das Sitzen in der immer gleichen Gelenkkonfiguration auf den immer gleichen Stühlen, an den immer gleichen Arbeitsplatzhöhen.
Sitzen an sich ist etwas unheimlich Wertvolles – dieses ruhige Zwischending zwischen Liegen und Stehen/Aktivität. Es ist eine Konzentrationsposition, die Fokus auf eine Aufgabe erlaubt – ohne wegzudösen und ohne auf dem Sprung zu sein.
Und das Sitzen allein kann unseren Körper in eine unglaublich hohe Anzahl von Gelenkstellungen und Belastungsprofilen bringen – wenn wir es richtig anstellen.
Und das heißt im Wesentlichen: Wenn wir das in den Hintergrund rücken, was das Sitzen ständig in ein- und der selben Gelenkkonfiguration einsperrt: Stühle und die passenden Tische dazu. Ich sage bewusst “in den Hintergrund rücken”, und nicht “komplett darauf verzichten” – denn natürlich können Stühle und Tische nach wie vor eine Option sein. Aber eben nur eine von ganz vielen anderen.
Natürlich ist das nicht ganz einfach, und es wird zunächst ziemlich unbequem – da will ich niemandem etwas vormachen. Ein Körper, der das ganze Leben lang auf Stühlen gesessen hat, wird sich in Sitzpositionen auf dem Boden erstmal schwer tun. Möglich ist es dennoch, mit kleinen Progressionen und viel Ausprobieren (genauso wie das Schlafen ohne Kissen auch nicht von einem Tag auf den anderen möglich ist).
Noch einfacher ist es natürlich, wenn man als Kind einfach gar nicht erst verlernt, in allen möglichen Varianten auf dem Boden zu sitzen.
Und genau dabei wollte ich, basierend auf meinen eigenen Erfahrungen, meinen Sohn gerne unterstützen – noch dazu wo seine Körperbehinderung ihm das Sitzen und den Erhalt seiner Beweglichkeit deutlich schwerer machte als nicht-behinderten Kindern.
Aber wie, wenn er den überwiegenden Teil des Tages und seiner Zeit in der Schule verbringt? Das ganze Schulsystem umwälzen wäre eine Option gewesen – aber ich suchte nach einer etwas einfacheren und pragmatischeren Lösung. Und hatte Glück – in der Person seiner Klassenlehrerin.
Denn es passierte Folgendes: Ich erzählte ihr von meinen Gedanken bezüglich des einseitigen Sitzens und fragte sie geradeheraus, ob sie Interesse hätte, stuhl-/tisch-freien Unterricht auszuprobieren. Sie sagte begeistert ja (!). Um das ganze formal so einfach wie möglich zu halten, schlug sie als Rahmen eine Projektwoche vor – da sei sie flexibel, Themen nach Belieben einzubringen. Gesagt, getan.
Ich hatte alle möglichen Fantasien vorher. Dass es supergut werden könnte. Aber auch, dass es ein totales Chaos gibt, die Kinder vor Unbequemheit stöhnen und ächzen würden, und an Unterricht gar nicht zu denken sein würde.
Und so ging es tatsächlich vor sich:
Ausräumen des Klassenzimmers/Umgestaltung
Info zur Klasse: 2. Klasse einer regulären Grundschule; 14 Schüler (10 Jungs, 4 Mädchen); 17 Stunden pro Woche in dem umgestalteten Klassenraum
Unsere Prämisse war: Wir würden nur vorhandenes Mobiliar für die stuhlfreie Woche verwenden – also alles, was eh schon im Klassenzimmer war oder was wir uns aus anderen Räumen und aus der Turnhalle ausleihen konnten. Die Kinder halfen beim Ausräumen und beim Holen des Mobiliars mit – den Aufbau übernahm ich schließlich alleine nach einem Konzept, was ich mir vorher überlegt hatte. Im Wesentlichen beinhaltete das:
- Arbeitsflächen in drei verschiedenen Höhen, um den unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder Rechnung zu tragen (Körpergröße, Mobilität)
- Ausreichend Arbeitsplätze für alle Kinder
- Die neue Konfiguration sollte vier Unterrichtsformate ermöglichen: Einzelarbeit, Kleingruppenarbeit, Plenum (“Kino”, d.h. Frontalunterricht zur Tafel orientiert), Sitzkreis.
Start/Einführung des Projektes
Die Kinder erfuhren etwa drei Wochen vorher von dem geplanten Projekt und waren voller Vorfreude (s. Bilder). Die Eltern wurden etwa eine Woche vorab über einen Brief informiert; wir baten darum, den Kindern bequeme Kleidung und robuste Socken mitzugeben (die Kinder trugen im Klassenzimmer die Woche über keine Hausschuhe wie sonst, sondern eben nur Socken), sowie ein Sitzkissen, das die Kinder zur Unterstützung verwenden konnten.
Am ersten Tag nutzten wir den regulären Sitzkreis zu Beginn der ersten Stunde für eine kurze Einführung der Abläufe dieser Woche. Wichtig war uns insbesondere zu vermitteln, dass der Raum trotz des Turnhallenmobiliars keine Turnhalle war, und der Unterricht ganz normal weitergehen würde. Wir besprachen die Regeln (die wir bewusst von den Kindern festlegen ließen). Außerdem ließen wir die Kinder wissen, dass es in dieser Woche keine festen Sitzplätze geben würde – jeder war eingeladen, verschiedene Plätze auszuprobieren. Wir erinnerten auch daran, dass es nicht darum ging, in einer Sitzposition zu verharren, sondern dass die Kinder immer wieder eine gute Position für sich finden sollten und ich sie dabei bei Bedarf unterstützen würde.
Da ich nicht wusste, wie leicht die Kinder sich tun würden, einen Platz zu finden, hatte ich im Vorfeld mögliche Arbeitsplätze markiert. Dies stellte sich im Falle dieser Gruppe als nicht notwendig heraus – die Kinder hatten einen guten Blick dafür, wie man an welchen Stellen sitzen und arbeiten konnte.
Einführung von Sitzpositionen
Am ersten Tag gab ich den Kindern ganz bewusst keinen Input zu möglichen Varianten des Sitzens – ich wollte erstmal sehen, was von selbst passiert. Tatsächlich waren die Kinder ganz intuitiv und natürlich darin, verschiedene Sitzpositionen zu finden, und zwar in jeder Unterrichtssituation und unabhängig vom Arbeitsauftrag.
Der 2. Tag begann damit, verschiedene Sitzpositionen ins Bewusstsein zu rücken. Dazu verwendete ich die Abbildung aus der Veröffentlichung von Gordon Hewes (s.u.), welches ich auf Postergröße ausgedruckt und im Klassenzimmer aufgehängt hatte. Ganz einfach: Ich bat einzelne Kinder, bestimmte Positionen vorzumachen. Dabei hatte ich den Tag vorher dazu genutzt, um zu beobachten, welches Kind welche Positionen bevorzugte oder besonders leicht einnehmen konnte. Von diesen Beobachtungen waren die Kinder sehr angetan – so erlebte jedes von ihnen bestimmte Stärken in Bezug auf das Sitzen.
Aus: World Distribution of Certain Postural Habits, Gordon W. Hewes, American Anthropologist New Series, Vol. 57, No. 2, Part 1 (Apr., 1955), pp. 231-244 http://www.jstor.org/stable/666393
Diese Zuordnung und das Vormachen von Sitzpositionen durch die Kinder wiederholten wir am 4. Tag.
Am 3. Tag machte ich die Kinder auf ihre Sitzhöcker aufmerksam – d.h. ich leitete sie an, mit dem Becken nach vorne und hinten zu rollen und dabei zu merken, wann sie richtig auf den Knochen saßen. Das fiel vielen noch schwer. Es ging mir nicht darum, eine “korrekte”/”gute” Position zu zeigen – sondern einfach das Bewusstsein für das Becken zu schulen. Dadurch, dass die Kinder von sich aus die Positionen häufig wechselten, sah ich kein Risiko von übermäßigem Sitzen mit nach hinten gekippten Becken (auf dem Steißbein). Für eine längere Phase von stuhlfreiem Unterricht würde ich diese “Lektion” definitiv öfter bringen und möglicherweise durch bestimmte Cues im Unterricht erinnern. Auch hier nicht, um diese eine Position herauszuheben, sondern um Einseitigkeit zu vermeiden.
Aufmerksamkeit/Konzentration
Diese Woche hatte über allem das Ziel, das Sitzen im Unterricht vielseitiger zu gestalten. Trotzdem hatten wir uns im Vorfeld gefragt, wie es die Gruppendynamik und den Unterrichtsablauf beeinflussen würde, wenn die Kinder anders sitzen und vor allem ihre Plätze frei wechseln konnten. Auch gab es logistische Fragen – nämlich wo deponieren Kinder ihre Schulsachen und wie werden Unterrichtsmaterialien ausgeteilt. Hier zu machten wir folgende Beobachtungen:
- Generell war kein großer Unterschied in Bezug auf Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit festzustellen. Die Klassenlehrerin hatte den Eindruck, dass die Kinder, die sich auch sonst damit schwer tun, zur Ruhe zu kommen, sich auch im neuen Setting schwerer taten – aber eben auch nicht schwerer als sonst. Für diejenigen, die sich mit Konzentration und Ruhe leichter taten gab es auch keinen Unterschied. Übereinstimmend bemerkten wir aber, dass der Zeitraum für ein abschließendes Fazit zu diesem Punkt einfach zu kurz war. Interessant wäre es, wenn man sich 2-3 Monate mit so einem Klassenraum Zeit geben könnte.
- Herausfordernd in Bezug auf Aufmerksamkeit und Lautstärke waren tendenziell die Wechsel von einem Unterrichtsformat ins nächste, also vom Sitzkreis auf die Plätze, oder von den Plätzen ins Kino.
- Ein großer Vorteil des Setups war, dass Bewegungspausen viel mehr Platz hatten.
- Ab dem 3. Tag benannten wir jeweils drei Kinder, die für eine angemessene Lautstärke zu allen Zeiten sorgen sollten – d.h. die Kinder bekamen die Aufgabe, ihre eigene Lernatmosphäre zu schaffen. Das klappte zum Teil schon ganz gut und hing sehr von den jeweiligen Kindern ab.
- Schulranzen wurden jeweils an den Seiten des Klassenraums deponiert – so dass keine Taschen mitten im Raum standen. Dadurch mussten die Kinder, je nach dem wo sie saßen, ggf. aufstehen und ein paar Schritte gehen. Das klappte ganz gut und sorgte dafür, dass der Raum auch optisch eine gewisse Ruhe/Ordnung suggerierte.
- Das Austeilen von Arbeitblättern/Heften der Schüler durch die dafür benannten Kinder nahm etwas mehr Zeit in Anspruch, und zwar deswegen, weil es keine feste Sitzordnung gab und die austeilenden Kinder jedes Mal suchen mussten. Das ist vielleicht nicht so tragisch – trotzdem gibt es vielleicht Alternativen, z.B. Blätter einfach von zwei Seiten durchreichen o.ä.
Inklusion im Klassenzimmer
Ein Schüler der Klasse (mein Sohn) hat eine Körperbehinderung (beinbetonte Spastik) und ist somit in seiner Gelenkbeweglichkeit eingeschränkt. Für ihn ergaben sich ganz neue Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen in dem neuen Setup. Durch die verschiedenen Sitzvarianten war er sehr viel freier darin, die bewegungseingeschränkte Hüfte in verschiedene Positionen zu bringen, was durchweg positiv zu bewerten ist. Gleichzeitig erforderte das stark nach hinten gekippte Becken ein wenig mehr Kreativität, um es mit entsprechenden Kissen, Keilen etc zu stabilisieren. Auch hier wäre ein längerer Zeitraum spannend, um zu sehen, ob das vielseitigere Sitzen über den halben Tag die Bewegungsumfänge in der Hüfte verändert.
Insgesamt ist diese Art von Sitz-Landschaft an sich schon von inklusivem Charakter, da sie jedem Kind erlaubt, auf seine Stärken und Einschränkungen, sowie die ganz individuellen Voraussetzungen in Bezug auf Körpergröße und Anatomie einzugehen.
Lern- und Arbeitsautonomie
Wenn es so etwas wie “Sitzautonomie” (hiermit melde ich einen neuen Begriff an!) gibt, dann ist solch ein tisch-/stuhlfreies Klassenzimmer-Setup ein Paradebeispiel. Insbesondere bezieht sich das auf:
- Arbeitsplätze sind nicht so klar umrissen wie bei der Tisch-Stuhl-Konfiguration. Die Kinder können somit frei wählen, in welcher Orientierung (z.B. zur Tafel) sie sitzen, neben wem, und auch wie nah/weit von den nächsten Klassenkameraden. Durch die sich verändernden Sitzpositionen bleiben diese “Parameter” dynamisch – das erlaubt den Kindern, auf ihre sich verändernden Bedürfnisse (z.B. Rückzug/Anschluss) einzugehen
- Platzwechsel, die jederzeit erlaubt sind, und Wechsel der Sitzposition am Platz
Die Frage, die mich in diesem Zusammenhang natürlich brennend interessiert: Hat Sitzautonomie eine Auswirkung auf die erlebte Arbeitsautonomie der Kinder? D.h. fördert eine freiere Sitzordnung auch das selbstbestimmte Arbeiten? Das Feedback der Klassenlehrerin war vielversprechend – natürlich war auch hier der Projektwochenzeitraum nicht lang genug, um ein eindeutigeres Fazit zu ziehen.
Kosten
Hier ist ein grober Vergleich von Mobiliar-Anschaffungskosten für eine Klasse von 15 Schülern für ein reguläres vs. stuhl-/tischfreies Klassenzimmer:
Kosten der regulären Tische und Stühle:
5×4 Dreieckstische à ca. EUR 200,- = EUR 4000,-
15 Stühle à ca. EUR 80,- = 1200,-
d.h. gesamt etwa EUR 5200,- für ca 15 Kinder
Kosten der von uns benutzten Ausrüstung:
2 Turnhallen-Langbänke à ca. EUR 350,- = EUR 700,-
2 Turnmatten à ca. EUR 150,- = EUR 300,-
4 Yogamatten à ca. EUR 20,- = EUR 80,-
2 kleine Keilmatten à ca. EUR 70,- = EUR 140,-
ca 5 Teppichfliesen à ca. EUR 5,-? = EUR 25,-
d.h. gesamt etwa EUR 1250,- für ca 15 Kinder (also etwa ein Viertel der regulären Kosten) – wobei sich im Laufe der Woche auch bis zu vier weitere (aus anderen Klassen aufgeteilte) Kinder locker unterbringen ließen.
Feedback der Kinder
Die Kinder waren fast durchweg begeistert von dieser neuen Sitzerfahrung. Lediglich ein Kind bemerkte, das es ein wenig Rückenschmerzen hatte und das Sitzen sowie das häufigere Aufstehen (vom Boden) anstrengend fand. Vermutlich hing das von den sonstigen Bewegungsgewohnheiten dieses Kindes ab. Alle anderen Kinder hatten kein Problem und genossen es sichtlich bzw formulierten auch das entsprechende Feedback in ihre Projekthefte.
Allgemeines Fazit – und: Was bleibt?
Diese Projektwoche sollte vor allem eins zeigen: Ist es möglich, Grundschulkinder eine Woche lang im Unterricht um ein mehrfaches vielseitiger sitzen zu lassen – ohne dass die Qualität des Lernens darunter leidet? Diese Frage kann ich für diese Klasse mit einem klaren JA beantworten. Natürlich gab es Anpassungsherausforderungen, die den Unterricht zum Teil etwas langsamer abliefen lassen – aber für die Kürze der Zeit war es im Grunde beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Kinder den Übergang schafften.
Die große Begeisterung der Kinder hat mir auch nochmal bewusst gemacht, wie wichtig eine Lernumgebung ist, die mehr (Sitz-)Haltungsfreiraum erlaubt. Ich glaube, dass das Kinder auf mehreren Ebenen stärken kann:
- im Selbstvertrauen und in der Selbstwirksamkeit – allein dadurch, dass man ihnen überträgt, ihre Position und ihren Platz selbstverantwortlich zu wählen
- in ihrem Körpergefühl und ihrer Kompetenz in Bezug auf den eigenen Körper – in dem sie von alleine oder auch durch Impulse angeregt mit verschiedenen Sitzpositionen experimentieren und entdecken, was sie alles schon können bzw was sie lernen können
- als Gruppe – durch die weniger feste räumliche Struktur braucht es mehr Achtsamkeit und Rücksichtnahme auf andere
- und natürlich körperlich – vielseitigeres Sitzen und das Aufstehen/Hinsetzen zum Boden (vs auf einen Stuhl) ist für den gesamten Körper kräftigend
Es zeigt mir auch, wie einfach es wäre, Hüftmobilität bis ins Erwachsenenalter zu erhalten, wenn man diese Art von Sitzkultur durchgängig in Schulen und darüber hinaus etablieren könnte. Das Hüftgelenk spielt meiner Erfahrung nach eine zentrale Rolle in der strukturellen und funktionellen Gesundheit eines Menschen – Probleme mit der Hüfte sind oft Auslöser für eine ganze Bandbreite von Beschwerden, die sich dann meistens oberhalb und unterhalb der Hüfte zeigen. Oder andersrum: Wenn die Hüfte gut funktioniert, dann kann – grob gesagt – nicht mehr so viel schief gehen.
Gleichzeitig heißt es nicht, dass man Tische und Stühle für immer wegsperren muss. Denkbar wäre eine Umgebung, die Tische und Stühle einfach als ein mögliches Element zum Sitzen anbietet, neben allen anderen Sitzoptionen auf dem Boden oder irgendwo dazwischen. So hat die Lehrerin dieser Klasse z.B. beschlossen, dass sie den Flur vor dem Klassenraum als Bodensitz-Umgebung in ihren Unterricht einbauen wird – die Garderobenbänke werden dabei als Arbeitsfläche dienen.
Definitiv kann ich nach dieser Erfahrung sagen, dass so eine Umgebung mit einfachen Mitteln umzusetzen ist. Die Herausforderung liegt eher darin, den Kindern zu passenden Zeitpunkten die richtigen Impulse zu geben, aber auch nur so viel wie nötig, und ihnen damit das Gewöhnen an die neue Sitzumgebung zu erleichtern. Interessant wäre es in diesem Zusammenhang, so ein Projekt über einen längeren Zeitraum umzusetzen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Einführung einer solchen Umgebung durch jemanden begleiten zu lassen, der biomechanische, pädagogische und lernpsychologische Aspekte berücksichtigen und verknüpfen kann.
Für Schulen wäre eine Einführung von komplett oder weitgehend tisch-/stuhlfreien Klassenzimmern eine lohnenswerte Sache:
- Sie würden ihrem Auftrag gerecht, allen Kindern ein gesundes Sitzen zu ermöglichen – unabhängig von körperlichen Voraussetzungen und Größenunterschieden innerhalb einer Altersgruppe
- Anschaffungskosten würden deutlich sinken
- Das entsprechende Mobiliar ist viel flexibler einsetzbar als Tische und Stühle, die nur dem Sitzen dienen
- Eine begleitete Einführung kann ebenfalls kosteneffizient bleiben, wenn man mehrere Klassen einer Schule gleichzeitig betreuen lässt (wie das aussehen kann, erzähle ich bei Interesse gerne)
- Es würde regulären Schulen eine neue Möglichkeit im Zuge der Inklusion ermöglichen, denn mit dem Entfallen von Stühlen entfällt eine Barriere für Kinder, die motorisch nicht der Norm entsprechen (und in der Inklusion entspricht kein Kind einer “Norm”). Jedes Kind kann – ggf. mit Hilfsmitteln – angemessen sitzen, ohne dass es dadurch im Klassenverbund besonders auffällt.
Es war ermutigend zu sehen, dass man auf die allgegenwärtige Stuhl-kritische Evidenz eingehen und Sitzen sehr wohl vielseitiger und damit verträglicher machen kann – ohne den konzentrationsfördernden Aspekt herzugeben. Und wieder ist die Welt etwas weniger konfus.
Gerne gebe ich meine Erfahrungen weiter – solltest Du eine Schule kennen, die Interesse an einer Einführung und Umsetzung einer solchen stuhl-/tischfreien Umgebung hat, biete ich gerne ein persönliches Gespräch oder einen Vortrag vor Lehrern und Eltern an.
(Und falls jemand Interesse an einem ausführlicheren Feedback der Klassenlehrerin hat: Nächste Woche gibt es per Webcast ihre Eindrücke und Beobachtungen zu hören.)
Mein riesengroßer Dank geht an die Klasse 2a der Helmholtzschule in München: An die Schüler für ihre große Begeisterung, Neugier, Experimentierfreude und Kooperation; an die Klassenlehrerin Barbara Meder für ihren Pioniergeist, dem unglaublich bereichernden Austausch zu stuhlfreier Pädagogik und ihre Offenheit, mich für eine Woche in ihrem Unterricht mitzunehmen; an die Schulbegleiterinnen meines Sohnes für die praktische Hilfe und wertvolle Beobachtungen; und an die Eltern für die Unterstützung, das Interesse und die Erlaubnis, das in der Projektwoche erstellte Bildmaterial verwenden zu dürfen. Ich wünsche allen Beteiligten alles Gute und weiterhin einen vielseitigen (Schul-)Alltag!
Links
“Dream Classroom” von Katy Bowman http://www.katysays.com/dream-classroom/
“Thinking Outside the (Classroom) Chair” von Katy Bowman http://www.katysays.com/thinking-outside-the-classroom-chair/
“For Back to School, Reimagine Classroom Design” http://blogs.kqed.org/mindshift/2012/08/for-back-to-school-reimagine-classroom-design/
Mayo Clinic obesity researchers test ‘classroom of the future’ http://psychcentral.com/news/archives/2006-03/mc-mco031006.html
“Students Stand When Called Upon, and When Not” http://www.nytimes.com/2009/02/25/us/25desks.html?_r=0
“A Lifestyle of Movement: The Best Healthy Lifestyle Tip” http://totallifestylemanagement.com/a-lifestyle-of-movement-the-best-healthy-lifestyle-tip/